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die_wueste_waechst

die Wüste wächst

Vorbereitungsmaterial für die AGG-Jahrestagung Burg Rothenfels 1991

Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt

1) Der Wüstensturm des Golfkrieges in unseren Köpfen

Still werden und Abstand zu den hilflosen Aktionen, aber auch gleichzeitig Freude und Achtung für die mutigen Aktionen der Jungen… ich wusste nicht, was ich soll.

Das Transparent an der Front unseres Hauses „Im Krieg ist die Wahrheit immer das erste Opfer“ wurde auf Weisung des Hausverwalters abgenommen. Die Ölquellen brennen noch, da überlegt die neue Weltordnung, in den jugoslawischen Bürgerkrieg einzugreifen.

  wir sehen einander hungrig in die augen
  in wintermäntel eingehüllt und
  in düfte aus retorten
  glauben noch großen worten
  aus dem bösen alten märchenbuch
  sterbend schon sind wir noch stolz
  auf den staub vom letzten atomversuch...2)

Die neue Weltordnung hat sich in unseren Köpfen etabliert. In der systematischen Bankrottierung der sozialistischen Staaten feiert sich die ausbeutende Marktwirtschaft als Siegerin. Solidarität wird (wie im FDGB) 3) zur Abgabe, Sozialismus zur gescheiterten Idee von Idealisten.

Die vielen Filme aus den sechziger Jahren von Heinz Erhardt bis Schulmädchenreport 6.Teil erinnern im Fernsehen gerade an diese entsprechende alte heile Welt von kaltem Krieg und bürgerlichem Anstand.

Die Weltbilder sind geordnet, und eine fast durchgehend rechte Presse serviert sie uns täglich wortreich. Auch wenn alle wissen, dass Bild lügt und Fernsehen meistens langweilt; die Blödheit und Ausländerfeindlichkeit des Münchner Teils der SZ und so manche flotte Phrasen setzen immer wieder Spitzen der Dummheit zwischen die wunderbar gestaltete Werbung für schnellere Autos, tollere Klamotten und noch billigeren Mehrkonsum.

Die Fähigkeit zu Denken und zu Handeln ist verschwunden. Der wütende Austausch von Zumutungen führt nicht zur Aktion nach außen, sondern zum Kleinkrieg der Verzweiflung in unseren Beziehungskisten.

Die logische Reaktion unseres gestörten Immunsystems: Wir arbeiten immer mehr, jammern immer mehr, strahlen im Grün unserer Angsttriebe wie die Tannen und die Fichten, bevor wir zusammenklappen. Dabei leben wir mit allen (zu vielen) Möglichkeiten, können die beste Ernährung nicht mehr verdauen, verhungern innerlich. 4)

Die Bilder sind ständig da: Abgemagerte Aidskranke, viele Drogentote, Selbstmorde, Pillenschlucker. Das Verenden im Wohlstand ist die andere Seite des von unserem stolzen Privilegiensystem produzierten Hungertodes in anderen Regionen.

Die lächerliche Entwicklungskosmetik unseres 'Bundesministeriums für Zusammenarbeit' holt immer noch aus fast jedem 'Partner'land mehr heraus, als es hergibt.

Wenn wir unsere Gesellschaft als Organismus betrachten, welchen Krankheiten entspricht solches Verhalten?

5) Durchblutungsstörungen als erstes: mangelnder Austausch. Gefühllosigkeit / gestörtes Empfinden, mangelndes Denkvermögen, irritierte Wahrnehmung, falsches Selbstbild: Wie soll man die alte Rassenideologie beschreiben, die uns immer noch als etwas besseres ansehen will und den Chauvinismus (ich bin besser) immer neu kleidet?

Jemand, der zu lieben vergisst, zu leben vergisst, den Austausch mit anderen zu Floskeln versteift, den lebendigen Kontakt nicht mehr schaffen kann - wie Autisten in der eigenen Welt verschlossen? Wie soll man so jemand aufwecken?

Ein amerikanischer Clown (dort wird Autismus, vor allem bei Kindern, sehr oft festgestellt) hat gut hingeschaut und ist in das Benehmen der Autisten eingestiegen: viel Zeit, viel Ruhe & Geduld. Und er hat ihr Spiel aufgenommen, ihre Lebensart, um Vertrauen zu gewinnen, in Kontakt zu kommen.

Eine andere Art ist, autistische Kinder im Arm zu halten, mit ihnen Ruhe zu finden, sie kräftig lange zu halten. All die vergrauten Menschen unserer Umgebung zu umarmen, halten, auf sie eingehen? Eine idealistische Lösung. Die andere Art, einen Gegenschock zu setzen, provozieren, konfrontieren: auch nicht das, was ich mir für mich wünschen würde.

Was ich suche, ist der sanfte Schock der eigenen Wahrheit und die Verführung zur Lust des echten Lebens. Wenn erst die möglichen Fluchtpunkte klar sind, die eigenen Sicherheiten als Hintergrund dienen, sind Aufbrüche in neue Gebiete möglich.

Eine Sicherheit ist uns der Tod (so sehr wir uns davor schrecken) 6) eine andere ist die Möglichkeit, betreut zu leben (auch wenn wir Angst vor der nötigen Dankbarkeit und der Abhängigkeit haben). Viele andere Möglichkeiten liegen zwischen Glaube, Hoffnung und Lieben.

Die letztere ist, soweit möglich, auch die breiteste: Zwischen Freundschaft, und Kollegialität, Familie und Sexualität bis zur großen „Zärtlichkeit der Völker“, der Solidarität können wir in Beziehungen Sicherheiten finden.

Genau diese Sicherheiten verbaut uns die vereinsamende Konsumwelt. EinE TouristIn kann schwer FreundIn werden, einE KundIn kaum HelferIn, EinE TherapeutIn schlecht PartnerIn. In unseren grenzgesicherten Rollen dosieren wir unsere Beziehungen und unsere Angst. Und jedes Risiko an Überschreitungen verhindert unsere Vernunft frühzeitig.

So verteidigen wir unseren Knast, weil wir ihn gewöhnt sind, die Forderung nach Abschaffung aller Knäste erscheint uns als bedrohlich. 7) Dabei sind sie - als Spiegelbild unsrer Personen - der teuerste und unsinnigste Anachronismus unserer Gesellschaften: Dort wird man in Kriminalität geschult, in Gewalt und Hass geübt, mit harten Drogen versorgt und dabei mit Aids infiziert. Ein teurer Luxus.

Der Knast entspricht der alten Ideologie, dass Sicherheit durch Mauern zu haben wäre. Dabei muss spätestens nach dem Bunker- Zeitalter klar sein, dass solche Grüfte und Gräber nur für Tote taugen, dass wir zum Leben Weite und Bewegung brauchen. Auch der Bau gesicherter Villenbereiche in einer konfrontativen Gesellschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen.

Weite und Bewegung brauchen wir auch in unserer Person: Für andere, mit anderen, tanzen und weinen können. Damit meine ich nicht langsamen Walzer und schluchzen unter der Bettdecke. Die Einsicht in unsere Situation, unser Werden und unsere Ängste, unsere Anständigkeit und unsere Systemdressierbarkeit wird mehr Ärger und Zorn in uns auslösen, als uns je lieb sein kann.

Entsprechend hart ist der Vorgang der Befreiung aus uns selbst. Und langwierig. Und angsterfüllt.

Viele greifen daher zu einem sicheren Elternersatz- Therapeuten. Manche helfen sich informell mit guten FreundInnen oder packen das Problem in ihre Beziehung. Wenige gehen bewusst damit in Arbeitsgruppen, die sich gegenseitig und in Kontakt mit ihrer Umwelt weiterhelfen.

Nicht Selbsterfahrungsgruppen meine ich, die in der eigenen Sauce dünsten, sondern Gruppen wie die der Gewaltfreien Aktion und der Solidaritätsarbeit, die durch die Themen ihrer Arbeit und die Begegnung mit anderen Kulturen zu klareren und schärferen Bezügen auch untereinander kommen können.

Solche Auseinandersetzung, die über unsere satte Enge hinausführt, ist zuerst einmal auch befremdlich. Wenn wir lernen, uns dabei gegenseitig Hilfestellung zu geben und uns auch allmählich an die kritischen Themen wagen, kann unser Begreifen und Verstehen tiefer und weiter werden.

Den Mut, die Tabus 8) stückchenweise zu zerlegen und die eigene Angst dabei zu spüren, kann ich nur durch Verführung verstärken: Es ist spannender als viele Krimis, es gibt mehr Kraft als viele Fruchtzwerge, es macht überraschend frech und frei, mehr als ein Mini.

Anmerkungen

1)Ein Satz von Friedrich Nietzsche, zitiert nach Uwe Pörksen „Die totale Entwirklichung“ Zur Sprache der Kriegsberichterstattung im Freire-Rundbrief 48/49-91 S. 7 der ag spak, 2) Text aus dem Musical Hair, der mir dabei in den Kopf kommt. Weiter geht er dann:

  dennoch, es bleibt die ahnung einer größe ...
  wir nur, wir aber wissen, wenn wir singen,
  wenn unsre spinnweb-sitars klingen,
  das leben wird von innen neu beginnen.
  laßt die sonne, laßt den sonnenschein
  in euch hinein ...

3) Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund der DDR hat seinen Mitgliedern die „Solidaritätsbeiträge“ auch gleich vom Lohn abgezogen und dann aber nicht für Nicaragua, sondern für die FDJ im eigenen Land verwendet.

4) Immunschwächen der Bäume, Tiere und Menschen: Trotz vollem Nahrungsangebot kann nichts mehr aufgenommen werden, weil die „Verdauungsorgane“ Bakterien und Pilze zu wenig geworden oder durch Therapie vernichtet sind.

5) Der Gedanke der „politischen Homöopathie“ wurde in der Gewaltfreien Aktion entwickelt und geht von organischen Assoziationen aus, Mikrokosmos und Makrokosmos entsprechen sich in vielen Bereichen.

6) Der Tod in unserem Leben: Theaterarbeit aus der Erfahrung mit Sterbebegleitung und der Ausbildung für BetreuerInnen von Aidskranken. (Potsdam Juli 1991)

7) Der Kriminalpolitische Arbeitskreis der ag spak stellte schon lange diese Forderung auf, im Stern September 91 wird sie mit neuen Argumenten untermauert.

8) Arbeit am Tabu, eine weiterentwickelte Spezialität aus dem Theater der Unterdrückten, im Freire-Brief 48/49-91 siehe oben

Die Termine zu Theaterwerkstätten des KollegEnkreises entwicklungsdienst theater - methoden gibt es beim Autor, Fritz Letsch, Theaterpädagoge.

die_wueste_waechst.txt · Zuletzt geändert: 2022/02/15 17:42 von lenni