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Plurivers - Pluriversum. Ein Lexikon des Guten Lebens für alle

S. 27: In der Zeit ab den 1980er Jahren hat sich die neoliberale Globalisierung in der ganzen Welt aggressiv ausgebreitet. Die UNO konzentrierte sich nun auf ein Programm zur ‚Linderung der Armut‘ in den Entwicklungsländern, ohne die Ursachen der Armut in der akkumulationsgetriebenen Wirtschaft des wohlhabenden Globalen Nordens zu hinterfragen. Vielmehr wurde behauptet, dass die Länder erst einen hohen Lebensstandard erreichen müssten, bevor sie Ressourcen für den Umweltschutz einsetzen könnten. 13 Siehe eine Präsentation des ehemaligen indischen Premierministers Manmohan Singh (1991) und eine Kritik daran in Shrivastava und Kothari (2012), S. 121-22.

S. 30

Transformative Initiativen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von herkömmlichen oder reformistischen Lösungen. Im Idealfall setzen sie an den Wurzeln eines Problems an. Sie stellen in Frage, was wir bereits als Wesensmerkmale des Entwicklungsdiskurses identifizert haben – Wirtschaftswachstum,  Produktivismus, Fortschrittsrhetorik, instrumentelle Rationalität, Märkte, Universalität,  Anthropozentrismus und Sexismus. Diese transformativen Alternativen werden eine Ethik mit sich bringen, die sich radikal von derjenigen unterscheidet, die dem derzeitigen System zugrunde liegt. Die Beiträge in diesem Teil des Buches spiegeln Werte wider, die auf einer  relationalen Logik beruhen, einer Welt, in der alles mit allem anderen verbunden ist.

Es gibt viele Wege zu einer Bio-Zivilisation, aber wir stellen uns Gesellschaften vor, die unter anderem die folgenden Werte umfassen:

  • ƒƒ Vielfalt und Pluriversalität
  • ƒƒ Autonomie und Eigenverantwortung
  • ƒƒ Solidarität und Gegenseitigkeit
  • ƒƒ Gemeingüter und gemeinschaftliche Ethik
  • ƒƒ Einssein mit und Rechte der Natur
  • ƒƒ wechselseitige Abhängigkeit
  • ƒƒ Einfachheit und Genügsamkeit
  • ƒƒ Inklusivität und Würde
  • ƒƒ Gerechtigkeit und Gleichheit
  • ƒƒ Nicht-Hierarchie
  • ƒƒ Würde der Arbeit
  • ƒƒ Rechte und Pflichten
  • ƒƒ ökologische Nachhaltigkeit
  • ƒƒ Gewaltlosigkeit und Frieden.32

Die politische Handlungsfähigkeit wird den Ausgegrenzten, Ausgebeuteten und Unterdrückten gehören. Und  Transformationen werden verschiedene Dimensionen einbeziehen und mobilisieren, wenn auch nicht unbedingt alle auf einmal. Ein Beispiel für diese Perspektive könnte die Reihe von Zusammenkünften sein, die seit 2014 unter dem Namen Vikalp Sangam (Zusammenfließen von Alternativen) in Indien stattfinden.33

Weltsozialforen

S. 31 … Direkte und delegierte Demokratie: … wo die konsensbasierte Entscheidungsfindung in der kleinsten Gemeindeeinheit stattfindet, an der jeder Mensch das Recht, die Fähigkeit und die Möglichkeit hat, sich zu beteiligen und … wo eine demokratische Regierung durch direkt verantwortliche Delegierte auf eine Weise geschaffen wird, die konsensorientiert und respektvoll ist und die Bedürfnisse und Rechte derjenigen unterstützt, die derzeit an den Rand gedrängt werden, zum Beispiel junge Menschen oder religiöse Minderheiten. weltsozialforum

S.33

Commons

Das Ideal der Gemeinschaftlichkeit, das hier ins Auge gefasst wird, trägt den paradigmatischen Charakter der heutigen Bewegungen hin zum ‚Commoning‘ oder zur ‚Comunalidad‘. Wie im Fall der von Vikalp Sangam vernetzten Initiativen basieren diese Kollektive auf autonomer Entscheidungsfindung durch persönliche Beziehungen und einen wirtschaftlichen Austausch, der auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse durch Selbstversorgung ausgerichtet ist.38

Unser Verständnis von Gemeinschaft ist ein kritisches: im Prozess und stets die moderne kapitalistisch-patriarchale Hegemonie des ‚Individuums‘ als Kern der Gesellschaft in Frage stellend. Wir hoffen, dass dieses Buch Gegenbewegungen zu diesem global kolonisierenden Zwang anregt, so wie wir wiederum von kulturellen Gruppen auf der ganzen Welt inspiriert werden, die sich noch immer einer kollektiven Existenz erfreuen.39

In diesem Zusammenhang schlägt die mexikanische Soziologin Raquel Gutiérrez Aguilar das Konzept der „entramados comunitarios“ oder gemeinschaftlichen Verflechtungen vor: „[D]ie Vielfalt menschlicher Welten, die die Welt mit vielfältigen Normen des Respekts, der Zusammenarbeit, der Würde, der Liebe und der Gegenseitigkeit bevölkern und hervorbringen, die nicht vollständig der Logik der Kapitalakkumulation unterworfen sind, auch wenn sie oft von ihr angegriffen und überwältigt werden … solche gemeinschaftlichen Verflechtungen … finden sich in unterschiedlichen Formaten und Ausführungen … Sie umfassen die vielfältigen und ungemein abwechslungsreichen kollektiven menschlichen Konfigurationen, einige seit langem, andere in jüngerer Zeit, die Sinn stiften und das ‚einrichten‘, was in der klassischen politischen Philosophie als ‚sozionatürlicher Raum‘ bezeichnet wird.“40

Als Antwort auf die ökologische Krise nehmen die ‚Expert*innen‘ des Globalen Nordens die für die Zerstörung des Planeten verantwortlichen Kategorien der Einen Welt als Ausgangspunkt für ihre angeblichen Lösungen! Doch ihr Eintreten für ‚la dolce vita‘ kann uns nicht erleuchten, wenn es darum geht, das Pluriversum nachhaltig zu gestalten.

Um es noch einmal zu wiederholen: Der Begriff des Pluriversums stellt das Konzept der Universalität in Frage, das für die eurozentrische Moderne zentral ist. Mit ihrer Aussage „Eine Welt, in die viele Welten passen“, geben uns die Zapatisten die prägnanteste und treffendste Definition des Pluriversums. Während es dem Westen gelungen ist, seine eigene Vorstellung von der Einen Welt zu verkaufen – die nur die moderne Wissenschaft kennt und die von ihrer eigenen Weltanschauung beherrscht wird –, schlagen die Bewegungen für eine alternative Globalisierung Pluriversität als ein gemeinschaftliches Projekt vor, das auf der Vielfalt der ‚Wege zur Welterfahrung‘ beruht. Unter den Bedingungen asymmetrischer Macht mussten indigene Völker ihre eigene durch den gesunden Menschenverstand erfahrene Welt verfremden und lernen, mit dem eurozentrischen, maskulinistischen Dualismus zwischen Menschen und Nicht-Menschen zu leben, der dazu führte, dass indigene Völker als Nicht-Menschen und ‚natürliche Ressourcen‘ behandelt werden. Sie widersetzen sich dieser Aufspaltung, indem sie sich für Berge, Seen oder Flüsse einsetzen, und vertreten die Auffassung, dass es sich dabei um empfindende Wesen mit ‚Rechten‘ und nicht um bloße Objekte oder Ressourcen handelt.

s34 Gestalt / Mütter

Sowohl im Globalen Norden als auch im Süden sind es meist die pflegenden Mütter und Großmütter, die sich in diese Verflechtung einbringen, um gemeinschaftliche ortsgebundene Formen des Seins und der Autonomie zu verteidigen und wiederherzustellen. Dabei stützen sie sich, wie die zuvor beschriebenen Indigenen, auf nicht-patriarchale Formen des Handelns, Seins und Wissens.42 Sie laden zu Partizipation, Zusammenarbeit, Respekt, gegenseitiger Akzeptanz und Horizontalität ein; sie ehren das Heilige in der zyklischen Erneuerung des Lebens.

Ihre unausgesprochen matriarchalen Kulturen widersetzen sich Ontologien, die auf Herrschaft, Hierarchie, Kontrolle, Macht, der Negation anderer, Gewalt und Krieg beruhen. Von der weltweiten Bewegung der Friedensfrauen bis hin zu afrikanischen Anti-Extraktivisten-Netzwerken verteidigen Frauen die Natur und die Menschheit mit der klaren Botschaft, dass es keine Entkolonialisierung ohne Entpatriarchalisierung geben kann.

Wie kommen wir von hier nach dort? Schließlich geht es um tiefgründige Verschiebungen in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur und gelebte Sexualität! Ein Wandel bedeutet, eine Reihe von Maßnahmen und Veränderungen in verschiedenen Lebensbereichen und in unterschiedlichen geografischen Bereichen zu akzeptieren. Übergänge können chaotisch und nicht völlig radikal sein, aber sie können als ‚Alternative‘ betrachtet werden, wenn sie zumindest das Potenzial für einen lebendigen Wandel haben. S.35-39 Anmerkungen und Autor*en

Nnimmo Bassey: Die Ketten der Entwicklung durchbrechen

Afrika, Entwicklung, Kolonialismus, Klimawandel Das Streben nach ‚Entwicklung‘ hat das Gemetzel auf dem afrikanischen Kontinent gefördert. Die Vorstellung, dass der von anderen eingeschlagene Weg zur Entwicklung derjenige ist, dem wir folgen müssen, ist im Wesentlichen imperialistisch und dient der Rechtfertigung von Kolonialismus, Neokolonialismus und Neoliberalismus. Die hinter diesen Phänomenen stehenden Kräfte fördern jetzt die Versklavung der Natur und die Inthronisierung der Kriegsführung mit hochmodernen Waffen.

Die meisten afrikanischen Regierungen stellen das Konzept der Entwicklung selbst nicht in Frage. Politische Führungskräfte müssen die Tatsache erst noch erfassen, dass die industrialisierte Welt durch die nicht nachhaltige Ausbeutung der Natur und die ungerechte Ausbeutung von Territorien und Völkern dorthin gelangt ist, wo sie heute steht.

Denker wie Walter Rodney (1973), Chinweizu Ibekwe (1975) und Frantz Fanon (1963) haben hervorragende Exposés verfasst, die eine kritische Selbstreflexion hätten auslösen müssen. Aber vielleicht sind unsere Führungskräfte nicht mutig genug, einen inakzeptablen Weg abzulehnen, nachdem sie miterlebt haben, wie Agent*innen imperialer Mächte Thomas Sankara aus Burkina Faso, Amílcar Cabral aus Guinea Bissau oder Patrice Lumumba aus dem Kongo ermordet haben – drei führende Persönlichkeiten mit alternativen Vorstellungen.

Verdeutlicht die kontinuierliche Begleichung der sogenannten kolonialen Schulden an Frankreich durch seine ehemaligen Kolonien in Afrika nicht, dass der Kontinent immer noch kolonisiert ist?

Die Plünderungen, die mit dem Kolonialismus einhergingen, werden oft übersehen. Manche sehen den Kolonialismus sogar als eine Form der Hilfe, die dazu beigetragen hat, Licht in einen vermeintlich ‚dunklen‘ Kontinent zu bringen. Ein Kommentator merkte an: „Die Reparationsdebatte ist bedrohlich, weil sie das übliche Narrativ der Entwicklung völlig auf den Kopf stellt. Sie legt nahe, dass die Armut im Globalen Süden kein natürliches Phänomen ist, sondern aktiv geschaffen wurde. Und sie lässt die westlichen Länder nicht als Wohltäter, sondern als Plünderer dastehen“ (Hickel 2015).

Heute ist das Klimaregime eine Arena, in der die Armen im Norden wie im Süden der Welt alle Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels tragen, während die Reichen und Mächtigen die Probleme weiter verschärfen. Dürren, Hungersnöte und Wassermangel nehmen zu, während die Regierungen überall die soziokulturellen und ökologischen Realitäten auf ihrer Suche nach Devisen missachten. S.44


Ihr, die ihr auftauchen werdet, aus der Flut, in der wir untergegangen sind, gedenket unser mit Nachsicht! An die Nachgeorenen, Bert Brecht

lexikon_des_guten_lebens_fuer_alle.txt · Zuletzt geändert: 2023/10/20 11:48 von lenni