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Theater war schon in Griechenland eine Form der Gesellschafts-Therapie.

In den heiligen Spielen wurden die zentralen Regeln und Tabus angesprochen, bestätigt oder hinterfragt. Solche Aufgaben wurden auch in jüngerer Zeit noch übernommen, als das kritische Volks- und Bauerntheater beispielsweise die Lebenssituation von Knechten und Mägden zum Spielen brachte und Abtreibung und Schwangerschaft der abhängig Beschäftigten thematisierte, die kein Heiratsrecht besaßen, aber Übergriffe durch die Bauern zu parieren hatten. 

Eine Linie vom (zuerst noch belehrenden) Jesuiten-Theater über aufklärerische Laien- und Weihnachtsspiele zieht sich durch das letzte Jahrhundert, eine bewusste Laienspiel -Tradition setzte sich gegen das „Amateur-Theater“, das die Klassiker und Profis imitieren will.

4.1. Brecht und die Suche nach dem epischen Dialog

In der Bewegung der kritischen Theaterleute der „Weimarer Zeit“ zwischen Piscator und dem Totaltheater  mit Gropius, dem „entfesselten theater“ bei Tairow , und den schon bald verbotenen kommunistischen Theatergruppen, wurden nicht nur die politisch aktuellen Themen wie die Aufhebung der §§ 218 und §175, Abschaffung der Todesstrafe, Arbeitslosigkeit, etc. behandelt,

„Denn solche Stoffgebiete kann man sich nicht aussuchen, sie dringen durch ihre eigene Gewalt in die Gebiete kultureller Betätigung ein. Nicht das Theater zieht sie, sondern sie ziehen das Theater in ihren Kreis. (…) Diese Stoffgebiete sprengen nicht nur die Form der Bühne, sondern auch die Form des Dramas. Sie graben sich wie Flüsse bei Hochwasser ihr eigenes neues Bett.“ Erwin Piscator

Die Gruppen, die in den Untergrund gingen, suchten, wie auch Brecht zuerst im deutschen Raum, in den Exil-Aufenthalten nach Formen, die nicht dem aristotelischen Konzept des dramatischen Gestaltens folgen.

Augusto Boal hat in seinem Buch Theater of the Oppressed  den Gegensatz zwischen dem aristotelischen Konzept und dem epischen Theater Brechts herausgestellt: Während das klassische Theater mit seinem geschlossenen Spannungsbogen dem Publikum eine abgeschlossene und damit auch unveränderbare Welt vorstellt, stellt das epische Theater die Frage nach der Veränderung und präsentiert deshalb tendenziell Fragmente, die von Sprechern präsentiert oder unterbrochen werden können.

Boal folgte dieser Spur und lässt im Forum-Theater die Szene(n) von einem Joker vorstellen und auf dem Höhepunkt, dem Moment der (intensivsten) Unterdrückung, unterbrechen. Er übergibt damit in dieser Situation die Veränderungsmacht an das Publikum.

4.2. Paulo Freire: Das Einlassen auf die Lebenswelt der Lernenden

Augusto Boal benannte seine Methodenreihe „Theater der Unterdrückten„  in Anlehnung und anerkennender Verbeugung vor der „Pädagogik der Unter-drückten“ von Paulo Freire, der mit seiner pädagogischen Theorie den Hintergrund sowohl für methodische Ansätze der Befreiungstheologie als auch für Boals Theaterarbeit geschaffen hatte.

Freire arbeitete schon in seinem europäischen Exil für den Weltkirchenrat (Genf) Konzepte für Alfabetisierungsprojekte aus, (später vor allem in Afrika), als ihm Boal Anfang '70 nach Haft und Folter durch die brasilianische Militärdiktatur ins Exil nach Europa folgte, er ging allerdings zuerst nach Portugal und dann nach Paris (Professur an der Neuen Sorbonne).

Es ist die Zuversicht in den menschlichen Dialog, der die Freire-Pädagogik seit ihrem Beginn in den 60er Jahren beseelt hat und ihn und seine Schüler/innen für die Diktaturen und totalitären Systeme in der Welt zu einer Bedrohung gemacht haben. (…) sein wichtigstes Buch: „Die Pädagogik der Unterdrückten“  im engen Austausch mit Exilierten und chilenischen KollegInnen und LehrerInnen (..) ist heute in 18 Sprachen übersetzt. Es ist in seiner Reflexion der Kultur des Schweigens ein sozialphilosophisches Grundlagenwerk, das selbst für postmoderne Diskursethiker eine Herausforderung dar-stellt. (…)

Mit der Analyse der Funktions- bzw. Wirkungsweise der 'Kultur des Schweigens' hat Freire eine historische Sichtweise globaler Zusammenhänge aufgezeigt, die die moderne aufklärerische binäre Kodierung aufhebt und komplexe Wechselbeziehungen von Unterdrückten und Unterdrückern sowie verdrängte, ambivalente Herrschaftsverhältnisse zum Thema macht.  Ilse Schimpf-Herken 

Zentraler Gedanke bei Freire ist die Abkehr vom „Bankierssystem“, in dem die Lehrenden das Wissen in die Köpfe der Schüler einlagern, auf dass es Zinsen trage … hin zu einem selbst-lernenden Subjekt, das in der Erforschung seiner Umwelt an den generativen Themen  seines Lebens das Bewusstsein für seine Situation und die Veränderbarkeit der Umstände gewinnt.

Die kritische Arbeit an Mythen und an der Kultur des Schweigens soll jene vermeintlichen Weisheiten zerlegen, die Veränderungen und den Mut zu Befreiung und Autonomie behindern.

Die Methoden der Bewusstseinsbildung  sind im Lauf der Jahre in die meisten fortschrittlichen pädagogischen Bereiche und Konzepte eingedrungen und auch in anderen Zusammenhängen und Begriffen wie „Empowerment“ ansatzweise umgesetzt worden.

4.3. Boal: das politische Spiel auf die Bühne bringen

Augusto Boal begann als Student der Physik und Chemie das Theater als politische Ausdrucksform kennen zu lernen, und geriet über die militär-staatliche Zensur von Klassikern und eigenen Stücken an die brechtischen epischen Formen und die 'unsichtbaren' Methoden der früh verbotenen Arbeitertheater im Deutschland der 20er Jahre.

In Theatergruppen (und als Leiter der Gruppe) des Arena-Theaters entwarf er Stücke und neue Aufführungs-Methoden im Dialog mit dem Publikum und den oft schwierigen Spielsituationen von Arbeiter-Organisation und Untergrund. Er wurde später als 'Brecht' der brasilianischen Szene bezeichnet.

In der Weiterentwicklung seiner Theater-Methoden begegnete Boal nun im Exil in den Workshops mit Schauspieler/inne/n und Theaterleuten, die ihn durch die meisten europäischen Länder führten, auch all deren Hintergründe, Proben- und Arbeits-Techniken, die er in der typischen Brecht-Manier bereitwillig aufnahm und in der Art kultivierte, sie in seinen eigenen Sammlungen nach dem Ort zu benennen, in dem er sie kennen lernte, wie z.B.

**"die beiden Enthüllungen von Santa Theresa"**

Zwei Personen mit vorher definiertem Verhältnis wie z.B. Tochter und Vater treffen sich und haben je eine überwältigende Überraschung vorbereitet, die ihr Verhältnis grundlegend verändern kann: z.B. „Ich bin von einem Unbekannten schwanger“ / „Ich bin nicht wirklich dein Vater“.

oder das Spiel vom

"Vampir von Straßburg":

Alle schließen die Augen und gehen durch den Raum, jemand wird vom Spielleiter zum Vampir ernannt und öffnet die Augen, „beisst“ jemand mit der Hand in den Nacken, diese Person soll laut aufschreien und wird jetzt auch zum Vampir, bis alle verwandelt sind. Aber: Wenn ein Vampir einen anderen Vampir am Genick erwischt, verwandelt er ihn dadurch zurück ….

Das alles erklärt Verschränkungen, auch Lernfelder, wie sie sich parallel in den Kulturen entwickelten und entwickeln: Ähnlich hat Carl Rogers aus den USA auf die Arbeiten von Freire in Südamerika / Afrika reagiert, als sie von Studierenden mit seinen Grundgedanken und seinem Menschenbild verglichen wurden. Es stellte sich dabei öfter heraus, dass ähnliche Gedanken zu gleichen Zeiten in ähnlicher Art und Weise aufgeschrieben werden, ohne dass man 'voneinander abschreibt'.

Nun aber zu den Schnittstellen, wie sie sich in meiner Arbeit abbilden:

4.4. Theater der Unterdrückten: Methoden im Überblick

Das Statuen- oder Bilder-Theater ist für mich die Eingangsform, in der ich mit den Beteiligten im Workshop vom Aufwärmen und den ersten Körper-, Lockerungs- bis zu Ausdrucksübungen die Methoden und den Blick des Theater der Unterdrückten einführe und dabei schon die ersten generativen Themen der Teilnehmer/innen herausarbeite.

Dabei bauen wir meist viele statische Bilder, die dann als Kern für die folgen-den Spiel-Szenen dienen können.

Für das ForumTheater erstellen wir dann in einer Gruppe eine gesamte Spielszene, die eine Person in ihrem Engpass dem Publikum zur Veränderung vorstellt. Dazu gibt sie der unterdrückten Hauptperson eine Vorgeschichte, die sie erfühlbar und verstehbar - und dadurch auch veränderbar macht.

Unsichtbares Theater stammt aus der Zeit der Verfolgung und Repression in Lateinamerika: Eine Szene wird in einer Alltagssituation gespielt, ohne dass das Publikum davon weiß: Wir sind auf Reaktionen vorbereitet, bringen z.B. ein tabuisiertes Thema in die Öffentlichkeit. Dies bedarf einer guten Vorbereitung und wurde schon oft mit „Vorsicht-Kamera-Späßen“ verwechselt. 

Viele verschiedene Formen des Zeitungstheaters kombinieren die veröffentlichte Meinung und Information anders, um sie vor verändertem Hintergrund neu wirksam werden zu lassen.

Legislatives Theater ist die konsequente Weiterführung der politischen Theaterarbeit in einem Mandat, wie es Augusto Boal als Vereador, Abgeordneter im Parlament der Stadt Rio de Janeiro 1991-1996 innehatte:

Er konnte seine Theatergruppe anstellen und erarbeitete mit den 19 verschiedenen Gruppen in den Stadtteilen Szenen zur Veränderung und stellte diese in kleinen Festivals der Bevölkerung zur Mitarbeit vor. Daraus entstanden mehr als 50 Gesetzesvorlagen, wovon 13 durchgesetzt werden konnten.

Chamber in the Street ist eine Methode, die schon früher in dieser Richtung entwickelt wurde und auch in München erfolgreich wirkte: Eine Sitzung wird öffentlich „aufgeführt“, das Publikum kann sich einmischen.

tdu_netz_vampir.txt · Zuletzt geändert: 2022/02/27 12:00 von lenni