Zwar werden die Medien nicht müde, homosexuelle „Prominente“ zu porträtieren, doch wie sieht's aus mit den Helden und Heldinnen, Pionieren und Pionierinnen, Aktivisten und Aktivistinnen, Machern und Macherinnen im lesbisch-schwulen Alltag? Also eben nicht die Anne Wills und Hape Kerkelings, sondern Leute, die an der Basis arbeiten?
Die Generation derer, die mit ihrem Engagement zu diesen Veränderungen beitrugen, kommt ins Rentenalter und verschwindet aus dem Blickfeld ihrer Zeitgenoss_innen. Durch die Veränderungen, zu denen auch der Siegeszug der sozialen Medien und des Internets gehört, wird die LGBTIQ-Welt zukünftig von den Ideen und Projekten jüngerer Menschen geprägt werden, die anders sozialisiert sind, mit anderen Medien kommunizieren und häufig der Identitätspolitik der 70er und 80er kritisch gegenüberstehen.
Die Autorin und Fachjournalistin Ariane Rüdiger stellt ihren 35 Interviewpartner_innen die Frage nach der Kontinuität des Szenelebens, dem Dialog der Generationen und ihren Visionen für die Zukunft.
Ariane Rüdiger arbeitet seit zehn Jahren an dem Münchner LGBTIQ*-Projekt forum münchen e.V. – Lesben und Schwule in Geschichte und Kultur – mit, das ein Queeres Archiv aufbaut und betreut, und ist Journalistin und Autorin. Im Querverlag sind von ihr drei Romane erschienen: Frosch, Aszendent Tausendfüßler (1998), Frau sucht Frau, nur für das eine (2002) und Operation Eisprung (2006).
Was Einzelne oder Gruppen geleistet haben und leisten, wird schnell vergessen und nur selten dauerhaft gewürdigt – schon gar nicht, wenn die Akteur_innen zu gesellschaftlichen Minderheiten gehören. Dabei tragen die sozialen Bewegungen, an denen sich solche Aktivist_innen beteiligen und die sie durch ihr Handeln und ihre Ideen prägen, viel zur Veränderung der gesamten Gesellschaft bei.
Das gilt nicht nur, aber auch für diejenigen, die zur LGBTIQ-Bewegung gehören oder sich mit ihr solidarisch fühlen. Dagegen will ich etwas tun. Gleichzeitig beschäftigt mich die Frage, was die auf die LGBTIQ-Szene wirkenden politischen und sozialen Veränderungen der vergangenen dreißig Jahre – von den ersten autonomen lesbischen und schwulen Aktivitäten in den 70er Jahren bis zur Eingetragenen Partnerschaft und darüber hinaus – für die Szene bedeuten:
Werden LGBTIQ-Menschen nun ganz einfach untergehen in der Mehrheitsgesellschaft? Werden lesbische und schwule Identitäten sich im Queer-Movement auflösen? Wie sieht es mit dem Verhältnis von Lesben zum Feminismus aus?
Werden LGBTIQs sich zukünftig nur noch virtuell organisieren? Oder wollen sie weiterhin eigene Kneipen, Gruppen und Vereine unterhalten? Werden LGBTIQs sich in Zukunft – zufrieden mit dem Erreichten – zurücklehnen? Oder werden sie sich mit anderen benachteiligten Gruppen innerhalb der Gesellschaft solidarisieren? Und wenn ja, mit welchen?
Wie sieht die Traum- und Wunschgesellschaft von LGBTIQs heute aus? Haben sie überhaupt eine?
Aus diesen beiden Themen entstand der Plan zu diesem Buch: Ungewöhnlich engagierte LGBTIQ-Menschen erzählen im Interview ihre Geschichten und befassen sich gleichzeitig mit der Frage, wie es mit der Szene aus ihrer Sicht weitergehen könnte. So bleibt das, was sie geleistet haben und denken, im Bewusstsein zumindest der LGBTIQ Öffentlichkeit.
Gleichzeitig bietet sich ein Ausblick auf mögliche Zukünfte für LGBTIQs, der Diskussionen anregt über die Frage, wie wir in dieser Gesellschaft in Zukunft leben wollen. Bei der Auswahl der Interviewten kam es mir darauf an, auch Personen zu Wort kommen zu lassen, die weniger bekannt sind, deren großer persönlicher Einsatz aber trotzdem einen Unterschied macht.
Es sollte ein möglichst breites Spektrum repräsentiert sein: Das Alter der Interviewten erstreckt sich von Mitte 20 bis etwa 80 Jahre, sie arbeiten oder arbeiteten in unterschiedlichen Berufen, es sind Lesben, Schwule, Bi-, Inter- und Transsexuelle darunter. Vier Personen mit migrantischem Hintergrund erzählten ebenfalls von ihrem Leben und ihren Gedanken. Strenge Repräsentativität war aber nicht angestrebt und wäre mit vertretbarem Aufwand auch wohl nicht realisierbar gewesen.
Einige der Interviewten gehören zu meinem Umfeld, andere fand ich durch Hinweise Dritter, wieder anderen begegnete ich mehr oder weniger zufällig oder fand sie durch Internetrecherchen. Der Zufall spielte also durchaus auch eine Rolle, und es gibt viele andere, die einen Platz in dieser Sammlung verdient hätten.
Querverlag 1. Edition (2. März 2016) Taschenbuch 274 Seiten ISBN-10 3896562436 ISBN-13 978-3896562432