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Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten, Bildung als Praxis der Freiheit

Bankiers-System in der Schule

Bei uns nannte man es früher den Nürnberger Trichter, mit dem das Wissen in die Köpfe der Schüler gekippt werden sollte, Paulo Freire nannte es Bankiers-System, wenn die Schüler*innen das Wissen der Lehrenden für gute Noten möglichst getreu wieder geben können.

Heute reden wir in den Hochschulen vom [Bulimie-Lernen]], wenn es immer noch bei Prüfungen um das auskotzen von rein gefressenen Büchern und Texten gehen soll.

Studieren war einmal was anderes, und der europäische Neoliberalismus brachte uns mit der Bolgna-Reform und dem Bachelor eine Regelstudienzeit, die nur zum Abprüfen taugt, wo früher noch Diplomarbeiten wirkliche Studien und Untersuchungen sein konnten.

„In der Pädagogik der Unterdrückten ging Freire auf die in seinem vorherigen Buch (Bildung als Praxis der Freiheit) (Nr. 4) vorgestellten Ideen ein und gab seinen ursprünglichen entwicklungspolitischen Ansatz auf, der philosophische Elemente der marxistischen Analyse einbezog, eine Veränderung, die weitgehend auf seine chilenische Erfahrung zurückzuführen ist.“ Das Erbe von Paulo Freire: Eine kritische Überprüfung seiner Beiträge von Daniel Schugurensky (engl.) https://kritische-praxis.blogspot.com/2021/05/das-erbe-von-paulo-freire-eine.html

Die Kultur des Schweigens

Die breite Vereinbarung der Verdrängung einer Gesellschaft bestraft jedeN, die oder der das Tabu verletzt: Es sind das Heilige und das Verbrechen, das vom Tabu und der Kultur des Schweigens verborgen werden.

Die Jahrhunderte von Patriarchat und Rassismus konnten sich nur halten, weil sie wenig angegriffen oder sofort verteidigt wurden: „Willst du unseren Untergang?“

Ein Leben ohne Autos in den Innenstädten, mit Geschlecht und Namen eigener Wahl, mit Liebesarten der gemeinsamen Erforschung, … befremden natürlich alle, die bei alten Gewohnheiten bleiben wollen.

Klima. Plastik, Gülle oder Trinkwasser, Leben an allerlei Orten oder Wüsten, Kriege und Aufrüstungen? Forumtheater!

Dialog

Viele Dialoge sind gefälschte Dialoge, und am Auffälligsten wird es, wenn die Lehrkräfte sich auch gleich selbst die Antwort auf ihre rhetorischen Fragen geben.

Wirklicher Dialog, der nicht spitzfindige Diskussion oder rechthaberische Verteidigung sein kann, könnte mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen, aber autoritäre und reaktionäre Systeme wollen keine Augenhöhe, sondern Hierarchie und Macht.

fritz letsch: Theater der Unterdrückten:

Lernen von der „3. Welt“

Unsere weitgehende Unfähigkeit zum echten Dialog zeigt sich in unserer Sucht zum Helfen, in unserem schlechten Gewissen, in unserer kulturellen Arroganz.

Im Münchner Dialog ’94 der Paulo Freire Gesellschaft mit der GEW München und dem Nord-Süd-Forum im Gewerkschafthaus forderte uns Paulo Freire (1) auf,

dieses schlechte Gewissen abzulegen,

uns frei zu machen zu einem wirklichen Dialog.

Diese erschreckend einfache Sprache, diese Klarheiten von Positionen und Denken sind von einem Kontinent zu lernen, der mit seiner Verschuldung und seinem politischen Umbruch in weit größeren Problemen steckt, als wir sie uns in unserer Privilegien-Welt vorstellen können, auf dem die Menschen wohl aber mehr Fähigkeiten zeigen, damit umzugehen, als wir das derzeit tun.

Und doch können wir guten Gewissens davon profitieren:

Indem wir lernen, den Gedanken der Befreiung nachzugehen, die in gleichberechtigter Begegnung liegt. Was für die Einen erst mit der Theologie der Befreiung klar geworden ist, hat für die Pädagogik Paulo Freire schon früher in seiner „Pädagogik der Unterdrückten (2)“ festgehalten:

Der Abschied von einer Belehrung von oben herab, von entfremdenden Autoritäts­verhält­nissen, und zu einem gegenseitigen gemeinsamen Lernen. Augusto Boal hat diese Methoden in die Theaterarbeit übersetzt, indem er von der Brecht-Tradition, die er vorher im Theater in die brasilianische Wirklichkeit übertragen hatte, auch politisch anwandte (3).

So entstand im brasilianischen Aufbruch der 60er Jahre die Verwandlung von Agit-Prop zu simultaner Regie, in der die Zuschauenden im Gespräch mit einem Spielleiter das Stück der Schauspieler verändern konnten. Auf den Impuls einer sehr beeindruckenden Frau (4) entwickelte Boal daraus das Forum-Theater, wie wir es heute regelmäßig auch für unsere Themen verwenden.

Dabei wird dem Publikum eine Szene vorgestellt, die es in der zweiten Phase verändern kann, indem jemand aus dem Publikum die Rolle der unterdrückten Person in der Szene übernimmt und zu einem anderen Ende bringt.

Die Anwendung von Theatermethoden in der Erwachsenen-Alfabetisierung

in verschiedenen südamerikanischen Ländern brachte eine Weiterentwicklung zu entsprechenden Techniken: Statuen- und Bilder-Theater machen eine Situation in ähnlichen Schritten durchsichtig, wie die Silben-Arbeit bei Freire’s Wort- und Schreib-Lern-Technik.

Zentral ist bei beiden Freunden

der Ansatz an den Themen der Teilnehmenden, die jeweils den Inhalt des gemeinsamen Lernens prägen. Entsprechend geht es bei unserer Arbeit um die europäischen Modelle der Unterdrückung: Sie findet bei uns weniger offensichtlich, aber weit hinterhältiger in Erziehung, Tabuisierung und Psyche statt.

Nach Verhaftung und Folter im Verlauf des brasilianischen Militärputsch entwickelte Boal im europäischen Exil seinen Ansatz vom „Polizisten im Kopf“, dem er mit einem Zentrum zur Heilung von Autoritäts- und Erziehungsschäden begegnen wollte.

In der Fortbildung von SchauspielerInnen, Theater- und Sozialpädagogen sowie Erwachsenen-BildnerInnen kam der „Regenbogen der Wünsche“ dazu, der inzwischen zu einer ausgefeilten Technik der Vertiefung gesellschaftlicher Themen für das Theater entwickelt wurde.

Dieser Ansatz ist – im Gegensatz zu Psychodrama als therapeutischer Arbeit am Einzelnen und in der Gruppe – breit auf die gemeinsamen politischen Hintergründe ausgerichtet und kann in der Gruppe Gespräche in Gang bringen, wie wir sie in unserer verkorksten Diskussionskultur nicht mehr kennen.

Stadtrat von Rio de Janeiro

Ein Entsprechendes verwendet Boal nun in seiner neuen brasilianischen Zeit in Rio: Nach den einladenden Versprechungen bekam seine Gruppe dort lange keine ausreichende Unterstützung, bis sie in den Wahlkampf der Arbeiterpartei (PT) eingriffen.

Was zuerst zur Durchsetzung von Räumen und Finanzen gedacht war, endete mit der Kandidatur und einem Wahlsieg Augusto Boals zum Ratsherrn der Millionenstadt Rio de Janeiro, als der er 25 Personen anstellen konnte, mit denen er nun seine neueste Theaterform entwirft:

Das Legislative Theater geht mit den Fragestellungen des Rathauses in die Wohnviertel, diskutiert mit Theatermethoden und bringt die Ergebnisse der Dialoge in Gesetzgebung und Verwaltung zurück.

Aufgrund der elementaren Sprache des Theaters ist das auch mit Straßenkindern und Prostituierten möglich, sogar mit anderen Ratsherren, denen Augusto auf den (typisch brasilianischen) Vorwurf, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, auch den ‚Leibhaftigen‘ ins Rathaus mitbrachte.

Zu unseren europäischen Fortbildungen bringt er vor allem sein analytisches Denken mit, das auch in etliche Literatur gefasst wurde, wovon leider noch wenig in deutscher Sprache, mehr in französisch und englisch erschienen ist.

Die Anwendung der Methoden des Theater der Unterdrückten in der Erwachsenenbildung hat Simone Neuroth5 zusammengefasst, für die Arbeit an Schulen hat die Arbeitsstelle Weltbilder zusammen mit der Schweizerischen Schulstelle der Arbeitsgemeinschaft Swissaid in Bern ein Heft „Spielräume“ herausgebracht.

Regelmäßige Fortbildungen gibt es beim entwicklungsdienst theater – methoden in der Paulo Freire Gesellschaft (6), im Institut für Jugendarbeit des Bayrischen Jugendrings in Gauting und bei KollegInnen in Hamburg und Mainz. Für Mitarbeiterinnen im Jugendbereich und im Sozialwesen haben wir die Fortbildung stop!tabu entwickelt, LehrerInnenfortbildungen sind in Vorbereitung.

Bei der Linzer Friedenswoche ’95 wurde Boal in eine Reihe mit Mikis Theodorakis und Ernesto Cardenal gestellt.

Damit er für die Bewußtseinsbildung auch an unseren Schulen und bei unseren Bildungsträgern tatsächlich eine entsprechende Signalwirkung bekommt, braucht es noch mehr mutige PädagogInnen, die den Einstieg in den gleichberechtigten Dialog wagen und den Mut zur Freiheit einer echten Partnerschaft mit den Lernenden eingehen. Das löst nicht den Beruf auf, sondern die Berufskrankheiten.

Kultur-Supervisor in Sao Paulo

Paulo Freire war in seinen letzten Jahren noch in Sao Paulo an der Modernisierung des Schulsystem beratend beteiligt, nun, seit der evangelikal-reaktionären Regierung Bolsonaro gilt er als böses Symbol der Freiheitlichkeit.

„1970 veröffentlichte Paulo Freire die Bücher Cultural Action for Freedom und Pedagogy of the Oppressed. Das Letztere wurde in 18 Sprachen übersetzt. 1973 veröffentlichte er Education for Critical Consciousness und im nächsten Jahr Conscientization. Teoria y practica de la liberacion. 1975 gab er zusammen mit Ivan Illich das Buch Dialogo heraus. Aus seinem Engagement in Afrika entstand das Buch Pedagogy in Process. The letters to Guinea-Bissau im Jahre 1979.

1980 war es für Paulo Freire wieder möglich, nach Brasilien zurückzukehren. 1985 veröffentlichte er das Buch The Politics of Education und 1987 – zusammen mit Ira Shor – A Pedagogy for Liberation. Außerdem schrieb er noch unzählige Artikel in Fachzeitschriften und einige andere Bücher. Die oben aufgeführten Bücher sind die wichtigsten.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Paulo_Freire

1 Paulo Freire entwickelte in Brasilien in den 60er Jahren die Pädagogik der Unterdrückten, die er später mit einer Pädagogik der Befreiung und nun mit einer Pädagogik der Hoffnung weiterführte. Letztere waren in deutscher Sprache noch nicht als einzelne Bücher erschienen.

2 Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten, Bildung als Praxis der Freiheit, rororo TB 6830

3 Augusto Boal: Theater der Unterdrückten, Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, suhrkamp-TB Neue Folge Frankfurt/M

4 Boal hat dazu eine sehr anschauliche Erzählung einer peruanischen Betrugsgeschichte, in der seine Gruppe sehr handgreiflich lernte.

5 Simone Neuroth: Augusto Boal’s „Theater der Unterdrückten“ in der pädagogischen Praxis, Deutscher Studien Verlag Weinheim 1994

6 Zeitschrift für befreiende Pädagogik, Paulo-Freire-Gesellschaft,

Weiterführende Literatur:

mehr und auch Termine wie fachliche Mailing-Gruppen im Internet http://joker-netz.de/ewnpfg

Zur Pädagogik der Unterdrückten

Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten FISCHER TB

Heinz Schulze: Befreiung und Menschlichkeit, Texte zu Paulo Freire, AG SPAK München 1991

Paulo Freire: 1) Unterdrückung und Befreiung 2) Bildung und Hoffnung 3) Pädagogik der Autonomie Waxmann-Verlag 2007

https://www.pfz.at/paulo-freire/

http://www.pfg-berlin.org/

http://wiki.aki-stuttgart.de/mediawiki/index.php/Paulo_Freire

ein sehr guter kurzer Artikel zur Bankiersmethode: https://userpages.uni-koblenz.de/~luetjen/ws15/paunb.pdf

ein ganzes Buch eines chilenischen Freire-Mannes: Tomás Moulian: Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert, der 5. Weg, Rotpunktverlag 2003 Zürich

Zum Theater der Unterdrückten

Augusto Boal: Theater der Unterdrückten, SUHRKAMP Neue Folge 361, Frankfurt 1989

Augusto Boal: Der Regenbogen der Wünsche, Methoden aus Theater und Therapie, Kallmeyer

Fritz Letsch: Theater macht Politik, Die Methoden des Theater der Unterdrückten in der Bildungsarbeit, Gautinger Protokolle im Institut für Jugendarbeit des BJR, Germeringerstr. 30, 82131 Gauting jetzt bei http://www.agspak-buecher.de

http://befreiungsbewegung.fairmuenchen.de/aufklaerung-neu-beginnen/

https://www.pfz.at/paulo-freire/augusto-boal/

Eine Powerpoint-Zusammenstellung

paedagogik_der_unterdrueckten.txt · Zuletzt geändert: 2022/08/29 22:51 von fritzletsch