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In Rio de Janeiro wird auf den Straßen und in den Wohnvierteln direkte Politik gemacht: Theatergruppen spielen Themen der Leute und laden diese dabei ein, die Situationen, in denen sie unter Druck kommen, gemeinsam zu verändern.

Augusto Boal war vier Jahre lang Stadtrat der 7-Millionen-Stadt und hat mit seinen mehr als 15 Mitarbeitenden in 19 Theatergruppen die protokollierten Vorschläge der BürgerInnen durchgearbeitet und daraus über 50 Gesetzesvorschläge und Initiativen in den Stadtrat eingebracht, wovon 13 angenommen wurden.

Daneben gab es noch die Möglichkeit, Boal Empfehlungen für sein Abstimmungsverhalten in anderen aktuellen Angelegenheiten und in einer öffentlichen Abstimmung des Etats mitzugeben.

Im Oktober 1997 trafen sich gut 30 Theater-KollegInnen aus Brasilien, Finnland, Frankreich, den Niederlanden, Schweden, Österreich und Deutschland in München, um neben Erfahrungsaustausch und – Weitergabe ihrer Arbeit mit dem Theater der Unterdrückten die neue Anwendung im Feld der Politik für ihre eigenen Länder zu entwickeln.

Die Hochschule München, Fachbereich 11 Sozialwesen in Pasing bot den Rahmen für Workshops und Projekt-Entwicklung, das Nord-Süd-Forum München half uns mit der Verbreitung der Einladungen wie das Fachforum Eine Welt in der Münchner Agenda 21 mit der Vorstellung im Rathaus.

Die Teilnehmenden der Konferenz haben mit Studierenden und Interessierten Szenen aus dem eigenen Erleben erarbeitet, um sie dem Publikum im Kleinen Sitzungssaal des Rathauses vorzustellen:

  • Gewalt in einer binationalen Ehe bringt die Problematik der modernen Sklavenhaltung durch unser aktuelles Ausländerrecht zutage
  • Eine verdeckte schwul-lesbische Doppel-Hochzeit sollte die Situation einer Ausländerin und die Liebe von zwei Paaren schützen und legalisieren
  • Der Stadion-Neubau auf den begrenzten Flächen der Bürger macht Geschäfts- Interessen sichtbar – und auch Kultur-Verhältnisse überbezahlter Dirigenten?
  • Kann ein garantiertes Grundeinkommen die Situation belasteter Familien verbessern?
  • Wer hat wie viel Platz zum Leben und wie gestaltet es sich gemeinsam?
  • Unsere unbewältigte Vergangenheit rülpst ausgerechnet zur Reichs-Pogrom-Nacht wieder in der „Hauptstadt der Bewegung“? (nicht ausgewählt)

Nach öffentlicher Probe und Begrüßung durch Bürgermeister Hep Monatzeder konnten die Gäste mit Unterstützung durch Augusto Boal unsere Szenen in ihrem Sinne verändern.

Die abschließend der Stadträtin Jutta Koller überreichten „Gesetzesvorschläge“ sind nun noch nicht genügend mit der Bevölkerung diskutiert, sollen aber als Signal dienen, diese neue Möglichkeit der Bürgerbeteiligung selbst zu erproben und Initiativen behilflich zu sein, entsprechende dialogische Elemente einzusetzen.

Der Artikel ist der Abschluss des Buches „Legislative Theatre“ im Routledge Verlag London / New York 1999, die englische Übersetzung und Erweiterung der „Beta-Version“ des „Teatro Legislativo“, CIVILIZACAO BRASILEIRA; Rio de Janeiro 1996

SYMBOLISM IN MUNICH

Augusto BOAL, Übersetzung: Fritz Letsch

„Die Paulo Freire Gesellschaft, nach dem großen brasilianischen Pädagogen benannt, lud mich ein, einige Beispiele des Legislativen Theaters in der Stadt München vorzustellen. Ich erklärte, dass es in Rio ganze vier Jahre gebraucht hatte, 13 neue Gesetze zu entwickeln, und dass wir in nur vier Tagen höchstens eine blasse und symbolische Vorstellung davon bringen können, was diese Theaterform in der Zukunft in der Stadt München oder an anderen Orten bedeuten könnte. Wir begannen unsere Arbeit und bereiteten in vier Tagen fünf kleine Szenen zu Unterdrückungs-Situationen vor, die für die 35 Workshop-TeilnehmerInnen aufschlussreich waren und sie, zumindest indirekt, selbst angingen.

Wenn der Hochzeiter seine Frau ausgesucht hat, wird sie von der Agentur importiert, die ihr die Hochzeit und ein wunderbares, prinzessinenhaftes europäisches Leben verspricht. Natürlich sind diese jungen Frauen sehr arm und voller Hoffnung, auch sehr naiv.

Wenn sie das Land erreichen ist das Versprechen der Agentur erfüllt: Sie heiraten. Einmal verheiratet, benimmt sich der Ehemann – in den meisten Fällen, nicht immer! – als hätte er eine Sklavin gekauft, und behandelt sie entsprechend in der Küche und auch im Bett. Meistens sprechen diese Frauen kein Wort Deutsch und haben Schwierigkeiten, diese Sprache zu lernen. Sie haben keine FreundInnen und manchmal ist es ihnen verboten, ohne ihren Mann auszugehen. Diese Ehemänner haben strikte Kontrolle über sie. Meister und Sklavin.

Wenn sich die Frau entscheidet, ihren Mann zu verlassen – es ist nicht leicht, aber möglich – ist das einzige Problem, dass sie automatisch ihre deutsche Staatsbürgerschaft verliert und von der Polizei in ihr Land zurückgeschickt wird. Sie wird bestraft: nicht er!

Während des Forum-Theaters, das wir innerhalb der Gruppe dazu machten, bildeten die Teilnehmenden ihre Meinung: Wenn ein Vergehen vorliegt – durch eine Heirat mit dem Vorteil, die deutsche Nationalität für die Frau und eine Sklavin für den Mann – sind beide für das Vergehen verantwortlich, nicht alleine die Frau.

Der Vorschlag für ein Gesetzesprojekt wurde klar: Die Frau sollte mit dem Verlust ihrer Nationalität bestraft werden, aber nicht mit der Ausweisung aus Deutschland: Viele dieser Frauen haben nicht nur wirtschaftliche Probleme, nach Hause zu kommen, sondern auch politische – in einigen Fällen kann die Ausweisung ihr Leben gefährden. Der Ehemann, angenommen, daß er ebenso verantwortlich war, die Heirat zu „fälschen / erschleichen …“ sollte mit einer kurzen Gefängniszeit bestraft werden, um ihn von weiteren Heiraten mit ausländischen Frauen zur Ausnützung ihrer Notlage abzuschrecken.

Andere kurze Szenen wurden zu Sozialer Sicherheit / Mindesteinkommen, schwul-lesbischer Ehe, der Nutzung öffentlichen Raumes für private Aktivitäten etc. entwickelt.

Für den fünften Tag hatte Fritz Letsch von der Paulo Freire Gesellschaft die Gelegenheit vorbereitet, die ForumTheater-Szenen im Sitzungssaal des Rathauses zu zeigen und lud dazu viele PolitikerInnen, einschließlich den Bürgermeistern, ein. Der OB konnte nicht kommen, er hatte an diesem Tag 50. Geburtstag,

Einige Leute kamen um 11 Uhr morgens ins Rathaus, als wir für die Präsentation um 13.30 Uhr probten. Darunter war eine alte Dame mit ganz weißen Haaren und Stock. Sie war auch bei der öffentlichen Vorstellung der Methoden am ersten Workshop-Tag, an dem ich die Funktion des Legislativen Theater erklärte.

Ich erinnere mich daran, weil während des Gesprächs nach meinen Ausführungen eine andere Frau sagte, dass dieser Prozess wohl in Brasilien gut funktionierte, weil wir in Brasilien Brasilianer sind (womit sie wohl meinte, dass wir tanzen und singen, was nicht unbedingt auf alle von uns zutrifft …) und dass wir extrovertierte Leute sind. Aber – so meinte sie – das geht nicht in einem Land wie Deutschland, wo die Leute mehr introvertiert, weniger nach außen gehend sind. Sie dachte dabei nicht an’s Oktoberfest! Ich antwortete, dass ich regelmäßig die gleiche Vorhersage hörte, als ich das Theater der Unterdrückten in Europa vorstellte – und doch: Heute wird das Theater der Unterdrückten in fast allen europäischen Ländern angewandt, und auch immer mehr. Natürlich müssen die Leute in jedem Land die Methoden auf ihre eigene Kultur, Sprache, Wünsche und Notwendigkeiten übertragen. Theater der Unterdrückten ist keine Bibel, kein Rezeptbuch, es ist eine Methode zum Gebrauch durch die Menschen, und diese sind wichtiger als die Methoden.

Das gleiche kann mit dem Legislativen Theater geschehen: In jedem Land muss es seine eigene Anwendung auf die realen Situationen finden. Aber die Frau blieb in jener Nacht bei ihrer Meinung und die alte Dame mit den weißen Haaren und ihrem schönen Stock an ihrer Seite sagte nichts.

Als wir die Vorstellung im Rathaus begannen, erklärte ich, dass wir nur einen symbolischen Anlass haben, wir hatten nicht den ganzen Vorgang des Legislativen Theaters durchlaufen, wir hatten nicht viele Vorstellungen vor verschiedenen Arten von Publikum, wir hatten keine „Sitzung auf den Straßen“ (1) über die Probleme, die in den Szenen gezeigt wurden, wir hatten keine „interaktive Mailing-List“, um Menschen zu befragen, die hilfreich sein könnten, ein Gesetz vorzubereiten und deren Fachwissen uns „erleuchten“ könnte.

Dagegen schrieben wir die Gesetzesprojekte selbst, was wirklich nicht der richtige Weg wäre. So konnte unsere Präsentation im Rathaus nur symbolischen Wert haben. (Und natürlich den Lerneffekt des Workshops, das Hauptziel der Europäischen Fachtagung Theaterpädagogik, FL)

Nach meiner Einleitung spielten wir die Szenen, das Publikum entschied sich für drei von ihnen, einschließlich der Sklavinnen-Szene, und wir arbeiteten mit Forum-Methoden daran. Viele Teilnehmende griffen ein, sogar die Mitarbeiterin des Bürgermeisters. Die meisten Veränderungen in der Sklaven-Szene waren unseren eigenen ähnlich.

Zum Abschluss der Veranstaltung überreichten wir unsere Gesetzesprojekte – jemand hatte wunderbare Buchstaben auf feines Papier geschrieben, um die Stadträte zu beeindrucken. Jutta Koller von den Grünen / Bündnis 90 / Rosa Liste war sehr freundlich zu uns und meinte, dass sie den symbolischen Charakter des Anlasses verstünde, aber trotzdem würde sie die Gesetzesvorschläge den grünen Stadträten zur Berücksichtigung vorschlagen.

Wir waren sehr glücklich. Auf ihrem Weg zum Ausgang kam die alte Dame mit dem Stock und den weißen Haaren zu mir: Sie war eine der Ersten, die kamen, und eine der Letzten, zu Gehen. Sie rief mich und meinte:

Es ist sehr unterhaltsam, was sie gemacht haben. Ich stimme Ihnen zu und ich weiß, dass es nur eine symbolische Aktion ist. Aber es war sehr wichtig für mich: Sie haben gezeigt, dass es möglich ist. Und ich hätte mir nie träumen lassen, dass Leute, gewöhnliche Menschen, Leute wie wir, zusammen kommen könnten, Theater über ihre Probleme zu machen, sie auf der Bühne diskutieren, und sich dann hinsetzen, ein neues Gesetz zu schreiben … Ich stimme mit Ihnen überein: Wir müssen unsere Wünsche Gesetz werden lassen!

Ich muss sagen, dass ich glücklich war."

Augusto Boal entwickelte auf der Grundlage der Bemühungen von Bert Brecht für ein dialogischen Theater und der Pädagogik der Unterdrückten von Paulo Freire das Theater der Unterdrückten, wozu auch das Forumtheater und Methoden wie Legislatives Theater und die Chamber in the Street gehören, eine Methode, die als öffentliche imitierte Parlaments-Sitzung die verschiedenen Aspekte einer Angelegenheit der Initiative anschaulich macht und die Argumente verbessert.

Altes Original mit englischen Texten dazwischen auf Anfrage/ Übersetzung abgedruckt in Wiegand, Theater im Dialog

symbolism_in_munich.txt · Zuletzt geändert: 2022/10/18 18:01 von lenni