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was_nicht_in_meinem_buechlein_steht

Was nicht in meinem Büchlein steht …

die dunklen Seiten des strahlenden Helden

Da gibt es einiges, was ich nur gelegentlich und nur mit guten Freunden teile: Meine Erziehung war ein Teil davon, mein Werdegang und meine Erfahrung wie meine eigenen Entschlüsse sind der andere Teil. Jetzt will ich ein wenig dosieren, was ja sonst den privaten Momenten geschuldet ist.

Wie meine Ängste begannen, als Kind, das äußerlich geborgen und sicher aufwuchs, in einer halbwegs angesehenen Lehrerfamilie … halbwegs bezieht sich auf das halbe Selbstbewusstsein meiner Eltern, Lehrer nur auf den Vater. Gefürchtet von ihnen die alten Beamten und Polizisten in der Nachbarschaft …

Unsere Mutter war zwar Großbauerntochter aus Schönberg, Großvater war dort Bürgermeister gewesen und es waren früher meistens um die 25 Leute am Hof, 12-14 Geschwister, die Großmutter bekam manche Kinder am Feld, Onkels und Tanten, Knechte und Mägde … und Fremdarbeiter aus Polen, im Krieg.

Sie hatte mit 15 einen Unfall im Stall, der so schlecht behandelt wurde, dass sie mit Blutvergiftung und schlechten Operationen eine etwas verkrüppelte rechte Hand behielt. Also war's nix mit Bäuerin werden, und das Mädel bekam eine Ausbildung, Handelsschule in München und und eine Lehre in der Buchhaltung im Modekaufhaus Ganzbeck in Neuötting.

Da hin hatte es dann auch unseren Vater verschlagen: Von der schwäbischen Alb kommend, aus Arnegg bei Ulm, heute Gemeinde Blaustein, wo sein Vater, ein strenger Zimmerer aus Riedlingen, Spezialist für Treppen geworden war und sein Häuschen aus Holz wie ein Forsthaus hoch über das Dorf im Blautal baute, mit knappem Platz für die drei Kinder.

Mit Zylinder und Gehrock war er ein stolzer Württemberger Bürger, befreundet mit dem Landrat, und im Wohnzimmer hingen Stiche von der Erschießung irgend legendärer Jünglinge.

Der Großvater hatte drei Frauen gehabt, von den ersten beiden (gestorbenen) gab es etwas Verwandtschaft, wie den Schwarzwälder Onkel Georg und einige am Bodensee und in der Schweiz. Vaters Mutter hatte fleißig zu wirtschaften, aus wenig Mehl viele Spätzle zu schaben, und im kleinen Ort für das Auskommen zu sorgen.

Der Krieg riss aus beiden Familien je einen Sohn: Bei Mutters Familie den jüngsten Bruder, von dem wir erst sehr viel später (bei Mutters 80ten plauderte eine Tante) erfuhren, dass er der wildeste Nazi im Dorf war, der Michael Reichl.

Bei Vater war es der ältere Bruder, der in Frankreich liegt, und dazu sein eigenes Bein, das irgendwo bei Minsk und Smolensk geblieben war.

Wer hinfällt, kann tot sein,

schloss ich als Kind daraus, dass die Erwachsenen immer über die Gefallenen redeten, und unser Vater ist nur ein wenig gestolpert, so verlor er nur sein dreiviertel Bein. Man kann sein Bein verlieren …

Erst später lernte ich, dass es auch gefallene Mädchen gibt, und bis heute weiß ich nicht, wo genau Onkel Franz in Frankreich liegt, wo die Tante manchmal war und ich glaub, dass er vor Vaters Bein gefallen war.

Vater kam dann ins Lazarett und irgendwann heim, ging aber bald zum Studium nach München, und weil er als Schreiner mit einem Bein nicht gut arbeiten konnte, wurde er noch im Krieg an der Technischen Universität zum Berufsschullehrer fortgebildet.

„Die Bomben von oben waren schlimmer als der Kampf an der Front, denn da wusste man, wo man in Deckung geht“ … mit Krücken in der zerbombten Maxvorstadt muss es schwer gewesen sein. Und da dazwischen war wohl das Lazarett in Neuötting, unsere Mutter, die später immer beteuerte, beim BDM nur sticken gelernt zu haben … kümmerte sich wohl auch um die armen jungen verletzten Burschen.

Unser Vater war stolz auf den Reichsarbeitsdienst gewesen, und wohl nicht im Gegensatz zu seinem Vater, von dem die Tante immer zitiert: „Wenn Hitler kommt, gibt’s Krieg!“ war er für „die neue Zeit“ begeistert.

Die beiden hatten ein eher kaltes Verhältnis, und ich weiß nicht recht, ob es an den Prügeln lag, die auch Vater wohl reichlich bekommen hatte, oder an einer Bemerkung, die mir irgend wo her zugeflogen kam: „Das hast du davon!“ Unser Tantchen würde so was sicher bestreiten, aber da gibt es ja etliche ungereimte Wahrheiten um diese Zeiten.

Durch das zwanghafte Verschweigen aller jungen Jahre waren mir unsere Eltern immer schon alt vorgekommen, und Vater, Jahrgang 1918, war immerhin schon 32 und in grauen Anzügen, als das erste Kind kam.

Von den Zeiten, in denen sie sich kennengelernt hatten, gab es nur geringe Andeutungen um kleine Autofahrten mit Bekannten, und dann die Hochzeit. Unsere Mutter hatte sehr viele Freundinnen gehabt, im Kaufhaus und in der Nachbarschaft, Vater war eher ein Fremder geblieben, korrekt und in der Öffentlichkeit bekannt, aber doch recht allein.

Einmal kam ein „Kriegskamerad“ zu Besuch vorbei, ich besserte gerade die Tür seines Arbeitszimmers aus, die früher unsere Kinderzimmertür zum Garten gewesen war, an der Westseite des Hauses, auf einen kurzen Besuch, weil er beim Arzt in der Nachbarschaft gewesen war, und die beiden schwerhörigen Männer erzählten sich ihre Fronterlebnisse im Osten.

Plötzlich war mein Vater, der früher in seinen Erzählungen immer nur „Melder, Kradfahrer“ war, aber keinen erschossen haben wollte, dabei, mit diversen Waffen auf die Ruskis zu halten, und ich glaubte meinen Ohren kaum, denn in seinen sonstigen Darstellungen und auch in den Soldaten-Kameradschafts-Zeitungen waren sie in der Selbstdarstellung ja beinahe immer unbewaffnet auf der Flucht gewesen, so gut hatten sie das Verschweigen der eigenen Bewaffnung eingelernt.

Als Kinder hatten wir schon bald gelernt, was die falschen Fragen sind und dass es auf Vieles erst später eine Antwort geben würde, weil wir das noch nicht verstehen … aber dann haben wir vorsichtshalber auch die Fragen vergessen.

Aus all diesen Hintergründen reichte eine Angst herüber, die in unseren Eltern saß und nie ausgesprochen wurde. Sie kam in Anflügen und schlug sich dann in Verhaltensweisen nieder: Koreakrieg und Kuba-Blockade brachten die „Aktion Eichhörnchen“, die größere Vorräte an Mehl, Zucker, Reis, Dosenmilch, Nudel etc. in einer Ecke zwischen zwei Schränken stapelte, mit einem Vorhang verdeckt.

Bis dahin hatte das „Fremdenzimmer“ wohl Wallfahrts- Übernachtungsgäste aufnehmen sollen, die aber nur selten kamen, weil wir doch etwas weit von der Gnadenkapelle wohnten, und andere Altöttinger Frauen da bessere Traditionen und schnelleren Zugriff hatten.

Unsere Mutter bemühte sich sehr, in diese Kreise wie in den Frauenbund zu kommen, und schaffte es später auch wirklich, bis in den ganz alten Teil des Friedhofs … aber die Angst vor den unsichtbaren restlichen Nazis und die Vorbehalte vor den damaligen Flüchtlingen (aus den Sudeten und Siebenbürgen) traf auch unsere Eltern etwas.

Sie waren ja auch nur kurz Neuöttinger gewesen, und hatten 1958 dann in Altötting das Häuschen gebaut, am damaligen Rande der Stadt. Mutter hatte immer etwas unterwürfig-anbiederndes zu den „besseren Leuten“, wie der „Frau Doktor“, die als eine von Wenigen Lippenstift trug und nur die Frau des Kinderarztes war, aber Ranghöchste in der Straße.

Respektspersonen waren auch noch die beiden Polizisten in der Straße, die unsere Nachbarn waren, die Familien mit den Männern in der Stadtverwaltung und des Kreisbaumeister im Landratsamt grüßten nur auffällig kurz.

Unsicherheit … und alle wichtigen Männer trugen Hut.

in unserem kinderzimmer hatten wir die beiden gefallenen onkels über den betten hängen, ein alptraum mit ameisen im bett fällt mir ein, auch irgendwann angst vor bettnässen, aber nicht konkret zuzuordnen …

… und schöne sommer-morgen, mit der kurzen lederhose schon schnell in den garten zu sausen, vor dem frühstück. und der golden glänzende nagel in der küchenwand, an den das christkind dann die neue küchenuhr hängen wird …

jahre später, ich bin nun wohl 13, er schon 17 ... oder war es früher?

vom kaplan stadlthanner, der uns beim katechismus-abfragen immer an den schläfen­haaren zwirbelte, was jede restliche erinnerung an die dummen verse vernichtete, die wir nach nummer aufzusagen hatten, hatten wir ein büchlein benannt bekommen, das wir uns in der „katholischen“ buchhandlung kaufen sollten:

6. Gebot - muss ein Junge daran scheitern?

(Und das der Mutter erklären, die zu diesen Themen immer nur zu beten begann … und bring mir bloß keine Schande nach Hause, was ich später prompt tat!)

da stand drin, dass wir unseren willen daran stählen sollen, dem trieb zu widerstehen. das verstand ich damals noch nicht, in der fünften oder sechsten klasse, aber dann kam der trieb … … Zur Studienzeit ab 1972 gab es dann zuerst nur Schwärmereien, denn in den Lexika für Kirche und Theologie stand unter Homosexualität von schwer therapierbaren Krankheiten, die für kirchliche Berufe bedenklich seien.

Bis dann der junge Jugendpfarrer, der mich als Theologiestudent schon im Studium angemacht und für den ich dann lange geschwärmt hatte, in der Nacht während der alljährlichen Jugendseelsorgerkonferenz in meinem Bett landete, auch zuhause dann immer mal wieder über ein dreiviertel Jahr, bis er unsere Beziehung beichtete, was ihm einen Gehörsturz bescherte.

Die Kalktabletten

Als ich in der dritten Klasse war, (mein erster Impuls wäre jetzt gewesen, zu schreiben „als ich elf war“, aber das passt nicht zu meiner bisherigen Erklärung … noch mal erinnern!

… und in die vierte Klasse bei Rektor Burger kommen sollte, bekam unsere Mutter einen gesteigerten Autoritätsstreß und das Gefühl, ich würde möglicherweise nicht den Anforderungen entsprechen.

Beim alten Fräulein Böck hatte es zwar auch gelegentlich Tatzen gegeben, sie ging dann mit 70 endgültig in Pension, denn für uns „geburtenstarken Jahrgänge“ gab es nicht genug Lehrkräfte, und wir waren schon 54 in der Klasse.

Ich hatte das Gefühl, sie mochte mich (und uns) und halte bis heute eine golden-rote barock geschnittene Keksdose in Ehren, die sie mir geschenkt hatte, als sie ihr Pult zur Pensionierung ausräumte. Ich hielt mich immer für einen guten oder mittelmäßigen Schüler. Sie hatte mich allerdings Floh genannt, ich war wohl zu aufgeweckt, unruhig, zappelig.

Meine Mutter hatte sich erkundigt und eine Klosterschwester in Haag, fast halbe Strecke nach München, als Heilpraktikerin ausfindig gemacht, die mich behandeln sollte.

Heute würde man es wohl ADHS nennen, und ich bekam speziell zubereitete „Kalktabletten“, die ich regelmäßig beim Apotheker zubereiten lassen und dann abholen musste. Sie waren in besonderen grauen viereckigen Plastikdosen. Ich wollte sie nicht nehmen, und um so mehr war meine Mutter dahinter, dass ich sie früh, mittags und abends nahm.

In der Zeit wurde ich dick und saß ewig über meinen Hausaufgaben, war zu langsam fürs Fußballspielen, dass es kaum für's Tor reichte, wenn wir mit den Nachbarsburschen auf der Wiese vorm Haus spielten.

Viele Jahre später, als ich sie danach fragte, leugnete sie in eigenartiger Weise sowohl Fahrt als Tabletten, und auch die grauen Dosen waren verschwunden, wo doch damals alles praktische aus dem neuen Plastik aufgehoben worden war.

Mein inneres Kind heult noch

Regelmäßig gab es für irgend etwas Prügel, und Mutters regelmäßiger Spruch, wenn wir ihr wieder entwischt waren, oder sie uns nicht „Herr“ wurde, war: „Wart nur, wenn der Vati heimkommt, dem sag ich alles“.

Entsprechend bedroht, taten wir wieder alles, sie zu versöhnen, und erst vor kurzem habe ich erfahren, dass das System hatte: Der Vater hatte auch gesetzlich das Recht zu strafen, die Mutter somit die Meldungs- oder die Versöhnungsrolle.

Da gab es große Kochlöffel auf dem Hintern, wenn du nicht pünktlich zum Abendessen zu Hause warst, frech widersprochen hast, etwas angestellt hast, oder wenn nicht zu klären war, wert von dreien was kaputt gemacht hatte.

Später ein spanisches Röhrl, das wir, im Streit untereinander eingesetzt, auch noch zerbrochen hatten: WER WAR DAS? Keine Antwort … größerer Ärger.

was_nicht_in_meinem_buechlein_steht.txt · Zuletzt geändert: 2022/02/26 23:03 von lenni